Einer meiner besten Freunde ist Personalleiter in einem Handelsunternehmen. Er erzählte mir, dass „agil“ jetzt das Zauberwort schlechthin ist. So fragt sich selbst der Handel, was Organisationen agil macht, was Führungskräfte neuerdings wissen und können sollten und wie sich die Zusammenarbeit in Teams verändert. Hoppla, und viele dachten, die agile Organisation sei nur für die zügige Softwareentwicklung bestimmt? Müssen Manager jetzt Scrum erlernen und mit noch mehr (und anderen) Anglizismen um sich werfen als bisher schon? Vereinfacht gesagt: In einer VUCA-Welt – einem Umfeld, das von Veränderlichkeit, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit geprägt ist – ist Agilität sowohl Erfolgsrezept als auch Überlebensstrategie. Als Erfolgsrezept leitet uns das agile Produktmanagement, schneller jene Lösungen anzubieten, die Kunden begeistern. Als Überlebensstrategie macht uns Agilität dynamikrobust und resilient gegenüber dem unvermeidlichen Wandel.
Agile Strategieentwicklung
Eine agile Strategieentwicklung stellt die strategischen Ziele der Organisation in den Mittelpunkt der Betrachtung. Was soll erreicht werden? Wichtig ist die Messbarkeit des Ziels, beispielsweise eine um 10% höhere Kundenzufriedenheit bei 10% geringerem Ressourceneinsatz. Das Führungsteam verwendet dieses strategische Ziel als Ausgangspunkt für eine Art Mindmap. Die Mitglieder des Führungsteams sammeln also Erfolgsfaktoren, die zur Erreichung des jeweiligen Ziels geeignet sind. Interessant ist dabei die Unterscheidung in potenzielle und kritische Erfolgsfaktoren: im ersten Fall werden Hypothesen getestet, im zweiten Fall gelten die Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge als erwiesen. Als Nächstes ordnet das Führungsteam den Erfolgsfaktoren notwendige Voraussetzungen zu. Durch die so entstehenden Kausalketten von Voraussetzungen und Erfolgsfaktoren, die konzentrisch auf das Ziel hinführen, ähnelt die Vorgehensweise der Balanced Scorecard. Damit vollzieht das Führungsteam auch den Übergang zur taktisch-operativen Planung. Im Rahmen der Delegation einzelner Arbeitsaufgaben sollen nämlich die zuvor identifizierten Voraussetzungen geschaffen werden. Hier lässt sich beispielsweise mit einem Kanban-Brett transparent nachhalten, was in Arbeit und was bereits geschafft ist.
Dynamikrobuste Erweiterung
Ein wesentliches Element, das mir bei diesem Vorgehen fehlt, sind externe Ereignisse. In der VUCA-Welt haben wir es mit einem schnellen Wandel der Bedingungen zu tun. Krisen bringen Chancen und Risiken mit sich. Sie können sich günstig oder hinderlich auf die Strategieumsetzung auswirken, jedoch kann die Organisation keinen oder höchstens mittelbaren Einfluss auf die Ursachen ausüben. Übliche Beispiele sind Preisschwankungen an Beschaffungs- und Absatzmärkten, disruptive Technologien und Geschäftsmodelle sowie gesellschaftliche Trends und regulatorische Rahmenbedingungen. Mit Hilfe einer einfachen SWOT-Analyse (Stärken, Schwäche, Chancen, Risiken) kann das Führungsteam solche externen Einflüsse zusammenstellen und gemeinsam mit den internen Voraussetzungen betrachten. Im Rahmen von Szenarioanalysen („Was wäre, wenn …?“) lassen sich Chancen und Risiken ebenfalls in Kausalketten anordnen und managen. Diese Vorgehensweise mag mehr aus dem Risikomanagement vertraut sein, eignet sich aber ebenso für die Chancen wie beispielsweise günstige, jedoch unwägbare Trends. Wenn wir uns also von der Illusion völliger Planbarkeit und Kontrolle lösen, das Geschäftsumfeld vielmehr als dynamisch akzeptieren, dann entwickeln wir Dynamikrobustheit und Resilienz. Der nächste Umbruch wirft die Organisation vielleicht etwas zurück, aber nicht mehr aus der Bahn.
Klassische Werkzeuge, Neue Haltung
Mindmap, Balanced Scorecard, SWOT-Analyse, Szenariotechnik … das soll agil sein? Ich bin der Meinung, mit diesen hinlänglich bekannten Methoden lässt sich bereits eine Menge Agilität erreichen. Mehr sicherlich als mit der unreflektierten Einführung neuer Methoden und Prozesse, die die Veränderungstoleranz des Führungsteams und der Mitarbeiter strapazieren können. Ohnehin bestehen wohlbegründete Vorbehalte gegenüber veränderten Prozessen, die aus einer weiterhin tayloristischen und eben nicht agilen Geisteshaltung heraus implementiert werden. Leider geraten zukunftsorientierte Konzepte wie nachhaltiges und agiles Management in Verruf, weil vordergründig neue Methoden und Prozesse ausgerufen werden, nicht aber die zugrundeliegende Haltung entwickelt wird. Da mutet es also possierlich an, wenn für einige Organisationen Agilität sich auf kürzere Durchlaufzeiten und mehr Transparenz beschränkt: gewissermaßen Command & Control durch die Hintertür. Vielmehr geht es um die Entwicklung einer veränderten Haltung zur Arbeit und zu den Mitarbeitenden. Und das ist vielleicht der wichtigste Punkt am Zauberwort: „agiles Management“ wird nicht implementiert, sondern Agilität will erlernt sein.
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